Große Denker und kleine Zufälle
Ulrich Dirnagl erforscht mit seiner Arbeitsgruppe die Schadensmechanismen des Schlaganfalls. Im Rahmen des BIH Investment Fund erhielt seine Arbeitsgruppe Radiofrequenzspulen für die Magnetresonanztomographie (MRT), mit denen man in das Gehirn kleiner Tiere schauen kann. Der Wissenschaftler und sein Mitarbeiter Philipp Böhm-Sturm haben mit uns über die Besonderheit der neuen Spulen, ethische Fragestellungen in der Wissenschaft und den Zufall gesprochen:
Herr Professor Dirnagl, Sie arbeiten im Bereich der Schlaganfallforschung. Womit beschäftigen Sie sich in Ihrer Arbeitsgruppe konkret?
Dirnagl: Wir beschäftigen uns mit dem Zusammenspiel zwischen dem Gehirn und anderen Organen. Bei einem Schlaganfall ist nicht nur das Gehirn betroffen, sondern auch das Immunsystem und das Herz. Dies hat die Neurologie lange ignoriert – als Neurologe interessiert man sich per definitionem besonders für das Gehirn. Die anderen Systeme sind aber für das Überleben und die Lebensqualität der Patienten hoch relevant. Zum Beispiel bekommen Patienten nach einem Schlaganfall häufig eine Störung des Immunsystems, wodurch Lungenentzündungen entstehen können. Wir arbeiten zwar auch mit Tiermodellen, doch unser wichtigster Auftrag ist es, die Forschungsergebnisse an den Patienten zu bringen.
Durch den BIH Investment Fund haben Sie Radiofrequenzspulen für Ihr Labor erhalten. Herr Dr. Böhm-Sturm, Sie sind einer der Hauptnutzer. Wofür nutzt man diese Spulen?
Böhm-Sturm: Durch die neuen Spulen sind wir das weltweit bestausgestattete Labor zur Fluor-MRT. Das bedeutet, dass wir das chemische Element Fluor im MRT darstellen können. Da es im Körper kaum vorhanden ist, kann man ein fluoriertes Kontrastmittel sehr gut nachweisen. Dadurch können wir erstmals tief im Gehirn kleiner Tiere die Sauerstoffsättigung im Gewebe messen und somit nicht-invasiv neue Erkenntnisse über das Gehirn erlangen. Außerdem können Standard-MRTs in der Klinik zurzeit keine entzündlichen Prozesse darstellen, obwohl diese bei einem Schlaganfall eine große Rolle spielen. Auch dafür kann man die Spulen nutzen. Wir untersuchen daher, für welche Anwendungen es sinnvoll wäre, MRTs in der Klinik entsprechend umzurüsten. Vor zwei Monaten haben wir einen Workshop mit fast 100 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus aller Welt organisiert. Für das Feld der Fluor-MRT war dies ein großer Schritt. Zusammen mit Chemikern der Universität Düsseldorf versuchen wir im nächsten Schritt, die fluorierten Kontrastmittel so weiterzuentwickeln, dass sie noch spezifischer an biologische Prozesse wie Plaques, Tromben oder entzündliche Prozesse im Blut binden.
Sie erproben das Fluor-MRT an Tieren. Forschung an Tieren ist bekanntlich ein sensibles Thema. Wie gehen Sie damit um?
Förderprogramm
BIH Investment Fund
Förderzeitraum
2015
Fachgebiet
Neurowissenschaften, Bildgebung
Vorhaben
Radiofrequenzspulen für die Fluor-Magnetresonanztomographie in der biomedizinischen Grundlagenforschung
Institution
Charité – Universitätsmedizin Berlin
Seit 2017
BIH Chair Transforming Biomedical Research und Gründungsdirektor des QUEST Centers, Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIH)
Seit 1999
Direktor der Abteilung für Experimentelle Neurologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin
2008 bis 2017
Direktor des Centrums für Schlaganfallforschung, Charité – Universitätsmedizin Berlin
Böhm-Sturm: Es ist natürlich ein sensibles Thema und Tierschutz sollte sehr ernst genommen werden. Sicherlich gibt es immer Verbesserungsbedarf und es ist wichtig, gesellschaftliche Akteure einzubeziehen. Unsere Tiere überleben die Prozedur im MRT und wir versuchen, invasive Tierexperimente, bei denen man beispielsweise Hirnschnitte machen müsste, zu ersetzen. Während Röntgen oder die Computertomographie mit einer hohen Strahlenbelastung verbunden sind, arbeitet das MRT mit Radiofrequenzen. Diese sind energetisch so niedrig, dass sie als völlig unbedenklich gelten – auch für Tiere.
Was würde es für die Forschung bedeuten, wenn man plötzlich keine Tiere mehr verwendete?
Böhm-Sturm: Es würde ein großer Baustein der Brücke von der Grundlagenforschung hin zur Klinik fehlen, der momentan nicht ersetzbar ist. Ein Tier oder ein Mensch ist ein viel komplexerer Organismus als das in-vitro Modell. Stoffe, die in der Zellkultur eine gewisse Wirkung haben, haben diese nicht notwendigerweise in anderen Organismen. Ein Medikament, das noch nicht am Tier getestet wurde, könnte demnach gefährlich sein. Daher ist es unwahrscheinlich, dass man es direkt am Menschen testen würde. Die meisten Tierversuche werden übrigens bei der Zulassung von Chemikalien durchgeführt.
Von der Zellkultur zum menschlichen Organismus ist es ein großer Schritt. Welchen Anteil des Gesamtbildes kann man als Individuum überhaupt sehen?
Dirnagl: Ich lese viel darüber, wie Menschen vor Hunderten oder Tausenden von Jahren auf neue Ideen kamen. Zum Beispiel Eratosthenes, der ein paar Jahrhunderte vor Christus den Erdumfang mit ein paar Kilometern Ungenauigkeit bestimmt hat. Heute arbeiten wir sehr inkrementell und bauen auf wahnsinnig viel Wissen auf. Jeder puzzelt in seiner Ecke – was wichtig ist. Die ganz großen, neuen Sachen gibt es in dem Sinne nicht mehr. Wenn ich an Newton, Galilei oder Eratosthenes denke, komme ich mir sehr klein vor. Newton erklärte berühmterweise, er habe nur neue Entdeckungen machen können, da er auf den „Schultern von Riesen“ gestanden habe. Ich glaube, wir stehen alle auf den Schultern von Riesen – aber diese Riesen sind schon hunderte Jahre alt.
Die Schlaganfallforschung gab es aber sicherlich noch nicht vor Hunderten von Jahren? Wollten Sie lieber unbekanntes Terrain erkunden?
Dirnagl: Dass ich in der Schlaganfallforschung gelandet bin, ist primär dem Zufall zu verdanken. Ich habe zufällig bei Herrn Professor Einhäupl meine Doktorarbeit geschrieben, der damals als einer der ersten Computer in seiner Forschung einsetzte. Ich wusste wenig von Computern und wollte das ändern. Später arbeitete ich an einem neurologischen Projekt mit Intensivpatienten. Von dort war es ein schleichender Einstieg in das Thema Schlaganfall. Besiegelt wurde es dadurch, dass ich mit einem Stipendium in die USA ging und zwei Jahre zu Schlaganfällen forschte. Das Labor habe ich mir primär deshalb ausgesucht, weil der Vater meiner damaligen Freundin und heutigen Ehefrau Professor in New York war. Wir bilden uns zu viel darauf ein, dass wir etwas unter Kontrolle haben oder steuern. Die schönsten Dinge in der Wissenschaft geschehen durch Zufall – man muss nur aufpassen, dass man sie mitbekommt.
Dezember 2017 / MM