Nächstes Level: Einzelzellanalyse
Als BIH Visiting Professor kommt Giuseppe Macino regelmäßig nach Berlin, wo er mit der Professorin Angelika Eggert und Professor Nikolaus Rajewsky an einem europaweiten Konsortium zur Zukunft der Single-Cell Analysis, also der Technologien zur Analyse einzelner Zellen, arbeitet. Wir trafen die drei Forscher im Dezember 2018 und konnten einen Blick ins das noch nicht fertiggestellte, neue Gebäude des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin (MDC) auf dem Campus der Humboldt Universität in Mitte werfen. Im Frühjahr 2019 wird hier das Berlin Institute for Medical Systems Biology (BIMSB) einziehen.
Vor uns sitzen ein Molekularbiologe, ein Systembiologe mit einem Hintergrund in der Physik und eine Onkologin. Was bringt Sie zusammen?
Macino: Wir haben uns 2005 in New York getroffen. Dort trafen wir die Entscheidung, einige Experimente zusammen durchzuführen und letztendlich mündete diese Zusammenarbeit in einem einflussreichen Artikel zu dieser Zeit. Dadurch wurde unsere Zusammenarbeit, aber vor allem unsere Freundschaft, besiegelt. Uns verbindet eine sehr ähnliche Vorstellung davon, was Wissenschaft eigentlich bedeutet.
Und wie passt das inhaltlich zusammen?
Rajewsky: Da man in der Neurobiologie keine Experimente am Gehirn durchführen kann, arbeitet mein Labor seit mehreren Jahren mit Organoiden. Dafür entnimmt man den Patienten Zellen und reprogrammiert diese in Stammzellen, die sich dann in ein Mini-Gehirn entwickeln. Daran kann man Krankheiten untersuchen oder auch Versuche durchführen. Giuseppe Macino arbeitet mit Organoiden in der Krebsforschung. Auf Angelika Eggert wurde ich aufmerksam, da sie nicht nur eine engagierte Klinikerin, sondern auch in der Grundlagenforschung sehr gut vernetzt ist. Als Krebsexpertin beschäftigt sie sich mit Gehirntumoren bei Kindern und fertigt dafür ebenfalls Organoide an. Man muss also kein Genie sein, um zu sehen, dass diese Expertise zusammengebracht werden sollte. Genauso entwickelte ich die EU-Flaggschiff-Initiative LifeTime, deren drei Säulen die brennendsten Themen der modernen Biomedizin widerspiegeln: die Einzelzellanalyse, also die molekulare Untersuchung einzelner menschlicher Zellen, Organoide, welche man wiederum in einzelne Zellen zerlegen kann, und die Künstliche Intelligenz. Giuseppe Macino hatte das italienische Epigenom-Programm initiiert, welches sich mit den gleichen Themen befasst und dessen Entwicklung ich über die Jahre mitverfolgte. Mit dem BIH Visiting Professors-Programm der Stiftung Charité konnten wir ihn nach Berlin holen, um zusammen konkrete Schritte in die Wege zu leiten und das Flaggschiff zu Wasser lassen.
Macino: Unsere Experimente können nur in wenigen Laboren mit der entsprechenden Ausstattung durchgeführt werden. Die Technologien sind heute so komplex, dass wir nicht nur Forscher brauchen, um die Versuche durchzuführen, sondern anschließend auch die richtigen Leute, um die generierten Daten zu analysieren. Mit dem Labor zusammenzuarbeiten, das weltweit zu den absoluten Vorreitern im Bereich der Bioinformatik zählt, ist essentiell für unser Projekt.
Das Humangenomprojekt, an das Ihre Arbeiten gewissermaßen anschließen, war mit großen Hoffnungen verbunden. Wenn Sie zurückblicken: Welche Erwartungen wurden erfüllt und welche nicht? Was wird bei der Einzelzellanalyse anders?
Macino: Das Humangenomprojekt ist eine der wichtigsten Errungenschaften der Menschheit. Alleine die Idee war revolutionär. Zuerst waren alle aufgeregt. Man dachte: endlich können wir alle Gene lesen und verstehen, wie Zellen funktionieren. Nicht viel später mussten wir realisieren, dass jede Zelle anders ist – auch wenn alle Zellen das gleiche Genom benutzen.
Förderprogramm
BIH Visiting Professors
Förderzeitraum
2018 bis 2022
Vorhaben
Einzelzell-Genetik und Epigenetik von Tumoren aus Patientenproben und Gehirnorganoiden
Fachgebiet
Allgemeine Genetik
Institution
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, Berliner Institut für Gesundheitsforschung
Seit 2016
Präsident und Gründer des Bioinformatik Kollegs, Universität La Sapienza, Rom, Italien
Seit 2012
Direktor des nationalen Flaggschiff-Projekts EPIGENOMICS des italienischen Bildungsministeriums und des nationalen Forschungsrats, Italien
2007 bis 2016/2009 bis 2015
Präsident des Kollegs für Biotechnologie und Direktor der Abteilung für Zelluläre Biotechnologie und Hämatologie, Universität La Sapienza, Rom, Italien
In Krebszellen werden beispielsweise komplett andere Gene genutzt als in einer gesunden Zelle. Außerdem wissen wir, dass die DNA in jeder Zelle anders organisiert ist. Nun müssen wir die Mechanismen aufdecken, die steuern, welches Gen-Set genutzt wird und welches nicht.
Rajewsky: Rückblickend war es natürlich naiv, zu glauben, mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms alle Krankheiten heilen zu können. Dennoch sind die Folgen des Projekts enorm. Vor Kurzem hat eine Unternehmensberatung geschätzt, welchen Ertrag jeder einzelne Dollar generiert hat, der in das Projekt investiert wurde. Aus wirtschaftlicher Sicht war es eine der besten Investitionen, die jemals in die Wissenschaft gemacht wurden. Wenn man sich anschaut, wie Krankheiten heute behandelt werden, basieren viele Therapien bereits auf den Ergebnissen des Humangenomprojekts. Patienten mit Tumoren, die nicht mehr auf konventionelle Therapien ansprechen, können ihre DNA sequenzieren lassen, um zu prüfen, welche Medikamente wirken und welche nicht. Wir behaupten nicht, mit unserem Projekt Krebs oder Alzheimer heilen zu können, aber wir erwarten ähnlich bahnbrechende Auswirkungen wie beim Humangenomprojekt.
Was kann die Einzelzellanalyse denn liefern, was das Humangenomprojekt nicht konnte?
Eggert: Die Entwicklungen auf dem Gebiet lassen sich mit einem Computerspiel vergleichen. Im ersten Level musste man eine bestimmte Aufgabe erledigen. Diese Aufgabe war das Humangenomprojekt. Wenn diese Aufgabe erfolgreich abgeschlossen wurde, kommt man ins nächste Level und wird vor eine neue, komplexere Aufgabe gestellt.
Die Einzelzellmethoden und das LifeTime-Konsortium sind dieses neue Level. Wir arbeiten bereits am Humanen Zellatlas, aber dieser beschränkt sich auf die beschreibende Ebene – etwa wie bei einer Landkarte, auf der man ein ARAL-Zeichen sieht, aber nicht weiß, dass es sich dabei um eine Tankstelle handelt. Um zu wissen, was hinter dem Zeichen steckt, muss man die Funktion herausfinden. Die Einzelzellanalyse ist der notwendige Grad an Präzision, um beispielsweise auf dem Gebiet der Onkologie weiterzukommen. Bisher wurde Krebs wie ein Organ betrachtet, das in unserem Körper wächst. In Wirklichkeit gibt es im Tumor nicht nur Tumorzellen, sondern auch vaskuläre Zellen und Immunzellen. Selbst die Tumorzellen unterscheiden sich voneinander. Die Einzelzellanalyse schafft Hoffnung, dass wir die verschiedenen Zelltypen der Tumore in Zukunft präziser behandeln können.
Rajewsky: Die Einzelzellanalyse könnte man auch als extrem gutes Mikroskop bezeichnen, allerdings nicht im optischen Sinn. Man schaut in die Zellen hinein und kann dort einzelne Produkte des Genoms unterscheiden. Wilhelm Conrad Röntgen bekam 1901 den Nobelpreis, da er die erste Methode entwickelte, mit der man in den menschlichen Körper schauen konnte. Plötzlich konnte man Strukturen, Knochen und Gewebe sehen. Heute sind wir eben so weit, dass wir in die Zelle selbst hineinschauen können.
Frau Professorin Eggert, wie kommt es, dass Sie sich als Klinikerin so sehr für die Grundlagenforschung interessieren?
Eggert: In meinem Team arbeiten wir mit Gehirntumoren und anderen Tumoren des peripheren Nervensystems. Wir begannen, Organoide unserer Krebspatienten zu erstellen, weil wir die Notwendigkeit dafür sahen. Aber nur Grundlagenforscher können neue Ansätze entwickeln, was man mit diesen Organoiden alles untersuchen kann. Auf dem Gebiet der Onkologie ist die personalisierte Medizin bereits am weitesten entwickelt, aber es gibt auch einen enormen Bedarf. Es handelt sich nach wie vor um eine tödliche Erkrankung und die Heilungsraten sind nicht so hoch, wie wir sie gerne hätten.
Wir befinden uns gerade in einem Gebäude, das Anfang nächsten Jahres eröffnet wird, unter anderem, um die Grundlagenforschung des MDC näher an die Charité zu bringen. Was bedeutet das für Sie?
Rajewsky: Jedes Mal, wenn ich hier bin, überwältigt mich der Gedanke. Einst saß ich an meinem Schreibtisch in Buch und dachte, dass es so einen Ort geben müsste. Knapp zehn Jahre später stehen wir kurz vor der Eröffnung. Die Lage des neuen Standorts ist zentral und wichtig. Bisher waren Forschungsinstitutionen in Berlin leider verstreut. Das hat historische Gründe, aber entspricht nicht dem Charakter moderner Forschung, die aus interdisziplinären Kooperationen besteht, für welche die physische Nähe entscheidend ist. Von Buch aus war es nicht praktisch, Angelika Eggert an einem normalen Arbeitstag im Wedding zu besuchen. Nun werden es zehn Minuten Anfahrt sein und die Zusammenarbeit kann viel intensiver ablaufen. Außerdem befinden wir uns auf dem Campus der Humboldt Universität. Wir brauchen junge Menschen, die zu uns kommen, lernen und gleichzeitig neue Ideen in unsere Labore bringen. Die Grundlagenforschung des MDC wird einen viel engeren Kontakt zur Klinik haben. Es ist also ein sehr dynamischer Zeitpunkt. Mir ist wichtig, dass es ein Ort wird, an dem sich die Menschen zu Hause fühlen. Wissenschaftler gehen zusammen Abendessen, unterhalten sich – und haben plötzlich neue Ideen. Also gehen sie zurück ins Labor und setzen sich wieder an die Arbeit. Die wichtigsten Ideen sind per definitionem unplanbar. Man kann allerdings eine Umgebung planen, welche die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass man auf solche Ideen kommt.
Macino: ... deswegen ist ein guter Kaffeeautomat wichtig (lacht).
Rajewsky: Tatsächlich ist das ein kleines Forschungsprojekt, einen geeigneten Kaffeeautomaten zu finden.
Macino: Eines Tages bekam ich eine E-Mail von Nikolaus Rajewsky, in welcher er nach Empfehlungen für Kaffeeautomaten fragte. Also ging ich in mein Lieblingscafé in Rom und fragte: „Toni, welche Kaffeemaschine ist die beste?“
Sie hatten also einen Einfluss auf die Ausstattung und Gestaltung des Gebäudes?
Rajewsky: Normalerweise hat man in Deutschland ab dem Moment, in dem man ausschreibt, keine Einflussmöglichkeiten mehr. Also muss man so detailliert wie möglich ausschreiben. Wir hatten großes Glück. Die Gewinner, Staab Architekten, sind dafür bekannt, dass sie eng mit den Wissenschaftlern zusammenarbeiten. Wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, habe ich mich mit wahrscheinlich jedem Detail beschäftigt, das Sie hier gerade sehen. Eins meiner Herzstücke ist ein Raum, der extra dafür angelegt wurde, dass ganz unterschiedliche Menschen zusammenkommen. Dort kann es Diskussionen geben, aber auch Konzerte und andere Veranstaltungen. Die Idee dahinter ist, dass der Ort zu einer Begegnungsstätte wird – zwischen den Lebenswissenschaftlern, Klinikern, Politikern, Investoren, der Öffentlichkeit und Künstlern. So etwas gibt es in Mitte noch nicht. Man soll hier in Kontakt mit Ideen und Menschen kommen, die nicht aus der gewohnten Umgebung stammen. Ich glaube, das ist für die Kommunikation zwischen den Akteuren sehr wichtig. Menschen außerhalb der Labore sollten mitbekommen, was in diesen passiert. Gleichzeitig kann die Welt dort draußen auch eine Inspiration für die Wissenschaft sein.
Macino: Auch im LifeTime-Projekt wollen wir Energie in die Kommunikation mit der Außenwelt stecken und regelmäßig Studierende, Professoren und andere Zielgruppen mit neuen Informationen zu unseren Projekten und Ergebnissen versorgen. Gerade auch Mediziner, die keinen Kontakt zur Grundlagenforschung haben. Die Medizin wird immer mehr zur molekularen Medizin, aber in der Universität wird sie noch nicht entsprechend gelehrt. Also gibt es in dieser Hinsicht eine große Lücke.
Herr Professor Macino, Sie als BIH Visiting Professor sind im Gegensatz zu Ihren Kollegen neu in Berlin. Haben Sie hier bereits etwas für sich entdeckt, das nichts mit Ihrer Forschung zu tun hat?
Macino: Nach meiner Ankunft in Berlin besorgte ich mir zuallererst ein Fahrrad. Ein paar Mal bin ich sogar bis nach Buch damit gefahren. Was ich aber an Berlin vermisse, sind die Hügel – wie in Rom. Deshalb ist es auch so einfach, Fahrrad zu fahren – es ist so flach, dass es quasi von alleine fährt.
Wenn Sie die Stadt mit Rom vergleichen, was kommt Ihnen da als Erstes in den Sinn?
Macino: Sie wollen, dass ich Rom und Berlin vergleiche? (Lacht). Rom ist in vielerlei Hinsicht eine wunderschöne Stadt – aber auch eine komplizierte Stadt. In Berlin ist es ist wesentlich leichter, sich zu Hause zu fühlen. Ich bin jetzt seit fast einem Monat hier und es gefällt mir sehr gut – selbst die tägliche Fahrt nach Buch. Wenn man aus Rom kommt, ist es einfach, sich in Berlin zurechtzufinden. Man findet alles, was man braucht. Kurzum: Ich fühle mich schon fast wie ein Berliner.
November 2018 / MM