Der Fliegenmann
Bassem Hassan erforscht den Zusammenhang zwischen der Hirnentwicklung von Fruchtfliegen und ihrem individuellen Verhalten. Ein Chat zwischen Paris und Berlin
Hi Bassem, wo bist du im Moment?
Auf der Couch in meinem Büro am ICM!
Du erforschst die Hirne von Fruchtfliegen. Was machst du, wenn du sie in deiner Küche erwischst – bringst du sie um?
Nein, dafür mag ich sie zu gerne. Ich versuche eher, sie zu beobachten. Immerhin arbeite ich schon seit fast 25 Jahren mit Fruchtfliegen.
Für Laien ist es schwer vorstellbar, dass so ein winziges Fruchtfliegengehirn ein fruchtbares Forschungsobjekt ist...
Mag sein, aber das Gehirn von Fruchtfliegen wird schon seit Jahrzehnten erforscht. Wir haben ihm viele Erkenntnisse über die Entwicklung und die Funktionsweise des Gehirns zu verdanken.
Kannst du uns einen Eindruck davon geben, wie komplex ein Fruchtfliegenhirn ist?
Es ist sehr klein, aber bringt in weniger als einem Kubikzentimeter mehr als 100.000 Nervenzellen unter. Ziemlich eindrucksvoll, findest du nicht?
Ja, absolut! Eben hast du erwähnt, dass du Fruchtfliegen gerne beobachtest. Haben sie ein individuelles Verhalten?
Ja, und zwar in vielerlei Hinsicht... Aber das lässt sich nur im Labor unter kontrollierten Verhältnissen feststellen. In der Küche an einem Samstagnachmittag ist das deutlich schwieriger!
Was kann man im Labor beobachten?
Zum Beispiel, dass manche Fliegen besser lernen können als andere, wenn es darum geht, eine Aufgabe zu lösen. In meinem Labor interessiert uns vor allem, wie sich ihre intrinsischen Reaktionen auf die Welt unterscheiden, also ihre angeborenen, nicht erlernten Reaktionen. Wir wollen verstehen, wie sich ihre Gehirne entwickeln und wie sich das auf ihre Individualität auswirkt.
Tut es das?
Wir arbeiten daran, das herauszufinden. Es hat lange gedauert, diese Frage in Experimente zu übersetzen. Die Grundidee ist, dass ein Gehirn, das sich in jeder Fliege ein wenig unterschiedlich entwickelt, auch individuelle intrinsische Fähigkeiten mitbringen könnte.
Und das unabhängig von der DNA?
Ja. Wie bei jedem Gewebe oder Organ ist auch beim Gehirn jenseits des Einflusses der DNA ein gewisses Maß an Zufall bestimmend dafür, wie es sich entwickelt. Der Gedanke, dass wir unsere Individualität auch etwas Unvorhersehbarem zu verdanken haben, ist sehr faszinierend, finde ich.
Förderprogramm
Einstein BIH Visiting Fellows
Förderzeitraum
2016 bis 2021
Vorhaben
Entwicklungsvoraussetzungen für die Variabilität in der Verschaltung neuronaler Schaltkreise und die Auswirkung auf das Verhalten
Fachgebiet
Entwicklungsneurobiologie
Institution
Charité – Universitätsmedizin Berlin
Seit 2016
Gruppenleiter “Genetik und Physiopathologie von Epilepsie“ am ICM Brain & Spine Institute, Paris, Frankreich
2002 bis 2016
Professur an der KU Leuven, Leuven, Belgien
2001 bis 2015
Gruppenleiter am VIPB Center of the Biology of Disease, Belgien
Wie genau erforscht ihr die Verbindung zwischen Hirnentwicklung und Individualität?
Wir ergründen zunächst, für welche Aufgabe eine Gruppe von Neuronen verantwortlich ist – etwa die Bewegung hin zu einem interessanten Objekt. Dann untersuchen wir, ob sich bei den Fliegen Unterschiede in der Entwicklung der betreffenden Neuronen erkennen lassen und ob diese Unterschiede sich auch auf die Art und Weise auswirken, in der sich die einzelnen Fliegen einem Objekt nähern. Schließlich manipulieren wir die Entwicklung der Neuronen selbst und versuchen vorherzusagen, welche Auswirkungen das auf ihr Verhalten haben könnte. Hört sich einfach an, dauert aber im Experiment Jahre.
Ihr beobachtet, wie Neuronen sich entwickeln?
Ja, wir nutzen innovative Mikroskope, um in die Gehirne von Fruchtfliegen zu schauen, die wir genetisch manipulieren, damit sich in den Neuronen farbige Proteine herausbilden. Eine besonders coole Technik, die wir dem Labor von Peter Robin Hiesinger in Berlin verdanken, macht es uns dabei möglich, die Entwicklung von Neuronen im Larvenstadium der Fruchtfliege live zu verfolgen!
Unglaublich, wie sieht so etwas aus?
Warte mal kurz.
Verspürst du Demut, wenn du dem Gehirn dabei zuschaust, wie es sich herausbildet?
Und wie! Einerseits ist es ungeheuer kompliziert und eine große Herausforderung, andererseits wahnsinnig schön und faszinierend. Wahrscheinlich kommt man nirgends sonst dem Moment der Schöpfung so nahe. Ich finde das extrem aufregend!
Hoffst du im Gehirn auch grundlegenden Prinzipien der Evolution auf die Spur zu kommen?
Natürlich hofft man immer, etwas Grundlegendes zu entdecken, aber mir würde es schon reichen, wenn ich die kleinen Fragen, die mir so durch den Kopf gehen, beantworten könnte. Aber klar, es wäre natürlich schon toll, wenn sich herausstellt, dass ein und dieselbe DNA unterschiedliche Gehirne hervorbringen kann und dies tatsächlich dazu führt, dass Individuen, nun ja, eben Individuen sind! Das könnte sogar dazu beitragen, dass wir besser verstehen, warum Menschen mit einer Genmutationen-verursachenden Krankheit unterschiedlich stark darunter leiden und unterschiedlich auf ein- und dieselbe Therapie reagieren.
Bassem, was gefällt dir am Leben eines Forschers?
Es hat einen großen Reiz, sich tagtäglich im Grenzbereich der menschlichen Erkenntnis zu bewegen... Das ist wirklich toll. Es gefällt mir auch, Neues herauszufinden, Rätsel zu lösen und das tiefe, schwer in Worte zu fassende Gefühl zu verspüren, wenn man endlich etwas verstanden hat, woran man sich lange die Zähne ausgebissen hat. Der kindliche Spieltrieb und die kindliche Neugier ist bei mir nie zum Versiegen gekommen.
Ich glaube, du hast mich für mein nächstes Leben überzeugt. Danke, dass du dir Zeit genommen hast für unseren Chat.
Gerne, Mirco. Hat mir Spaß gemacht.
Wohin bist du jetzt unterwegs?
Physisch gesehen zu einem Vortrag, den ich in 30 Minuten hier am ICM halten muss. Metaphorisch, wer weiß ... letztlich bleibt das Leben eben ein Geheimnis.
Erschienen im Albert Nr. 2, dem Journal der Einstein Stiftung Berlin.
Interview: Mirco Lomoth / Einstein Stiftung
Foto: Einstein Stiftung Berlin / Pablo Castagnola und Bassem Hassan