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Wissenschaftskommunikation auf Türkisch mit deutschem Akzent: Aufklärungs- und Mitmach-Videos gegen die Depression

Seit 2022 baut die Stiftung Charité ihren jüngsten Förderschwerpunkt „Open Life Science“ auf. Mit den sogenannten „science x media Tandems“ hat sie erstmalig ein Förderangebot entwickelt, das Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie auch Medienschaffende gleichermaßen unterstützt. Die Teams der ersten Kohorte, die die Auswahlkommission und den Stiftungsrat mit ihren wegweisenden Ideen überzeugen konnten, setzen ihre Vorhaben zur Verbesserung der Wissenschaftskommunikation seit Sommer letzten Jahres in die Tat um. Meryam Schouler-Ocak, Professorin für interkulturelle Psychiatrie, und Dilek Üsük, Fernsehmoderatorin und -reporterin unter anderem beim RBB und ZDF, sind eines dieser starken Teams der ersten Stunde. Beide sind in ihrem jeweiligen Feld wahrlich keine unbeschriebenen Blätter mehr – und auch in der türkeistämmigen Community Berlins bekannt und geschätzt. Gute Voraussetzungen dafür, im Rahmen des geförderten Projekts ‚im Dialog‘ mit der Community auf Social Media und in der direkten Begegnung in der Stadt für die häufigste mentale Erkrankung zu sensibilisieren, mit denen türkeistämmige Menschen in Deutschland zu kämpfen haben: der Depression. 

„Anlat!“ – Das ist eine Aufforderung und zugleich eine Einladung. Türkisch für „Erzähl mal!“ Es ist auch der Name, den Meryam Schouler-Ocak und Dilek Üsük nach langen Überlegungen und Brainstorming-Sessions für ihre neuen Instagram- und YouTube-Auftritte gewählt haben. Die lassen sie aktuell einrichten, um ihr wissenschaftsbasiertes Aufklärungs- und Hilfsangebot zu mentaler Gesundheit unter die Leute zu bringen, das sie als science x media Tandem konzipiert haben. Warum der Name so gut passt, erklären die Professorin und die Journalistin mir und Stiftungs-Volontärin Marike de Vries am runden Besprechungstisch in Frau Schouler-Ocaks Büro im PUK der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus, Berlin-Mitte – aber erst, als wir alle mit Kaffee versorgt sind und es uns bequem gemacht haben. Schouler-Ocak bemerkt, dass Anlat ein Wort sei, dass man sich unheimlich leicht merken könne. Üsük führt aus: „Einerseits erzählt Meryam: Sie teilt ihr Wissen über psychische Erkrankungen, besonders die Depression und ihre Ursachen, Folgen und so weiter. Andererseits richtet sich Anlat aber auch an die Patient*innen und Konsument*innen auf Social Media. Wir sagen damit: Geh und sprich darüber, wie es dir geht! Das war unsere Intention, in dem Namen unserer Social Media-Kanäle diese beiden Dimensionen zu erfassen.“

Im Untertitel heißt es sowohl auf Instagram als auch auf YouTube dann: „Psikoloji zamanı“ (dt.: Zeit für Psychologie, oder Zeit für die Psyche). Dazu Schouler-Ocak: „Es war wichtig, dass da der Begriff Psychologie irgendwo auftaucht. Das ist ein Stichwort, unter dem die Menschen Themen rund um mentale Gesundheit und Krankheit subsummieren. Und wir müssen die Sprache der Menschen sprechen – wir dürfen nicht zu fachbegrifflich oder medizinisch unterwegs sein.“ Mit kultursensiblen Aufklärungs- und Mitmach-Videos richtet sich das Tandem gezielt auf Türkisch an die aus fachlicher Sicht vulnerable und schwer erreichbare Gruppe türkeistämmiger Menschen in Deutschland, die bis heute wesentliche Benachteiligung im deutschen Gesundheitssystem erfahren. Zugleich weist diese Bevölkerungsgruppe ein deutlich erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen auf. Depressionen sind besonders weit verbreitet, und begünstigen zusätzlich beispielsweise auch physisches Leiden wie Herzerkrankungen oder chronische Rückenschmerzen. Die Zahlen, die Meryam Schouler-Ocak dazu hat, sind schockierend: Während in Deutschlands allgemeiner Bevölkerung mentale Erkrankungen mit einer Lebenszeitprävalenz von etwa 43% vorkommen, wie die Wissenschaft schätzt, treten diese in der türkeistämmigen Bevölkerung mit rund 79% fast doppelt so häufig auf. In der Türkei beträgt die relevante Vergleichszahl schätzungsweise 17%. Die Situation hat also eindeutig mit der Migrationsgeschichte und dem Leben in Deutschland zu tun: Sie wird durch strukturelle Risiko- und Belastungsfaktoren wie zum Beispiel einen niedrigeren Bildungsstand als in der Bevölkerung ohne Migrationsgeschichte, höhere Arbeitslosigkeit, strukturelle Diskriminierung und sozialen Ausschluss begünstigt.

Meryam Schouler-Ocak

Förderprogramm
science x media Tandems

Tandempartnerin
Dilek Üsük

Förderzeitraum
2023 bis 2024

Fachgebiet
Interkulturelle Migrations- und Versorgungsforschung, Sozialpsychiatrie

Vorhaben
Im Dialog – Mentale Gesundheit und Wissenschaft auf Social Media

Institution
Charité – Universitätsmedizin Berlin

 

2014
Bundesverdienstkreuz am Bande

2012
Habilitation: „Die Versorgung von Patienten mit Migrationshintergrund im psychiatrisch-psychotherapeutischen Gesundheitssystem“

Seit 2010
Leitende Oberärztin der Psychiatrischen Institutsambulanz in der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité (PUK) im St. Hedwig-Krankenhaus

Seit 2005
Leiterin des Berliner Bündnis gegen Depression unter der Schirmherrschaft von Prof. Dr. Rita Süssmuth

Als science x media Tandem wollen Schouler-Ocak und Üsük der bedenklich hohen Zahl an Depressionen und den daraus resultierenden Begleiterkrankungen, den Einschränkungen der Lebensqualität und Leistungsfähigkeit der Betroffenen in einer Mischung aus Wissenschafts- und Gesundheitskommunikation handlungsmotivierend begegnen und so einen Beitrag dazu leisten, die Zugangsbarrieren zu adäquater Gesundheitsversorgung für die Menschen zu reduzieren. Dass das auch oder sogar vorrangig auf Social Media passieren müsse, um maximale Wirkung zu entfalten, war der Medienexpertin Dilek Üsük sofort klar: „Da hängen doch alle ab! So meine Beobachtung übrigens auch im Privaten. Meine Mutter zum Beispiel ist sehr viel auf Instagram.“ Die Anekdote passt zur Evidenz: In aktuellen Studien wird berichtet, dass sogenannte schwer erreichbare Gruppen vielfältig soziale Medien nutzen – sehr viel mehr, als sie klassische Nachrichten etablierter Medien konsumieren. YouTube, Facebook und Instagram sind laut Statista die beliebtesten sozialen Netzwerke in Deutschland – zugleich finden sich alle drei Plattformen in den Top Ten der am häufigsten besuchten Webseiten in Deutschland wieder. „Mit Zeitungen und Radio alleine erreicht man heute nicht mehr die Leute,“ konstatiert Schouler-Ocak.

Wir kommen auf die Zusammenhänge zwischen psychischer Verfasstheit, Sport und Ernährung zu sprechen. Denn auch die denkt das Tandem in seinem holistisch angelegten Projekt mit. Es stellt daher nicht allein Aufklärungsvideos online, in denen die Reporterin die Professorin zu Ursachen, Symptomen oder besonderen Lebenssituationen (wie Depression in Postpartum, Depression bei älteren Menschen oder bei Männern im Unterschied zu Frauen) befragt oder mit ihr die diversen Behandlungsmöglichkeiten und Prognosen thematisiert und Begrifflichkeiten klärt, sondern zusätzlich Bewegungsvideos, die den wissenschaftlichen Erkenntnisstand aus Sportmedizin und Bewegungstherapie widerspiegeln.

Schouler-Ocak beschreibt die Ausgangslage: „Schon die Jugend ernährt sich nicht so besonders gut in der Community, auf die wir uns konzentrieren; Übergewicht ist ein Riesenthema.Aber auch bei Depressionen wissen wir, dass Menschen sich weniger bewegen und auch physisch zurückziehen, und da war die Idee tatsächlich, das informativ mit in unsere Videos einzubinden. Wir sagen jedes Mal, nach jedem Info-Clip: ‚Bewegen ist gut, da passiert etwas im Körper. Bitte machen Sie mit!‘ Und dann folgt eine Übung. Diese Verquickung von inhaltlichem Input mit der Anregung, sich kurz zu bewegen, ist uns, glaube ich, recht gut gelungen.“ Üsük betont, wie niedrigschwellig das entwickelte Bewegungsangebot ist: „Natürlich wäre es schön, wenn die Leute das Haus verlassen würden, aber wenn sie schon vor dem Bildschirm sind, dann wollen wir sie wenigstens versuchen zu animieren, sich dort ein bisschen zu bewegen. Das ist kein Ausdauersport, sondern beispielsweise eine ganz kurze Tanzeinlage zum Mitmachen.“ Lebensnah und entsprechend angepasst sind die Übungen, die der Bewegungstherapeut Dr. Gerrit Hain in Abstimmung mit dem Tandem entwickelt hat. „Da kommen auch mal Tennisbälle zum Einsatz oder ein Handtuch,“ erläutert Üsük, die selbst in den Bewegungsvideos zu sehen sein wird. „Gerrit hat bewusst auch lustige Szenen mit eingebaut, damit sich der Druck reduziert, funktionieren zu müssen und die Übung supergut hinzukriegen.“ Schouler-Ocak: „Ich erinnere mich zum Beispiel an die Kniebeugen und wie der Therapeut die modifiziert hat. Nehmen Sie sich einen Hocker, wenn Sie keine richtigen Kniebeugen machen können, meinte er. Dann setzen Sie sich auf den Hocker, stehen wieder auf, setzen sich wieder. Das fand ich so toll!“ 

Dilek Üsük verrät uns, welches Aufklärungsvideo ihr besonders am Herzen liegt und warum: „Ich finde unsere Folge zum Thema Nebenwirkungen bei Medikamenteneinnahme wichtig. Denn ich denke viele Menschen haben Sorge vor potenziellen Nebenwirkungen bei der Einnahme von Antidepressiva, und scheuen diese vielleicht auch aus dem Grund. Mein Eindruck: Auf Social Media kursieren dazu besonders viele Fehlinformationen. Wenn ich fundierter informiert bin, kann ich mich aber als Betroffene besser für oder gegen ein Medikament – vielleicht auch begleitend zu einer Gesprächstherapie – entscheiden.“

Die Begeisterung über die bisherige gemeinsame Arbeit ist den beiden Expertinnen im Gespräch insgesamt anzumerken. Beide berichten von einer Vielzahl von Aha- und Lern-Momenten. Meryam Schouler-Ocak erzählt, dass sich aus ihrer Sicht vor allem die Videodrehs als erstaunlich zeit- und ressourcenintensiv herausgestellt haben. (Da lächelt Üsük nur wissend.) Die Professorin beschreibt, wie sie mit einem Koffer voller Klamotten zu den Drehterminen erschienen ist, damit sie in den verschiedenen Videos nicht immer das gleiche, innerhalb einzelner Videos aber das jeweils richtige Outfit anhatte. Überhaupt, die Dreherfahrung – und sich im Anschluss das erste Mal auf Video zu sehen –, das war für die Wissenschaftlerin definitiv learning by doing, wie sie sagt: „Erst dachte ich: Oh Gott, so viel Text, hoffentlich kriegen wir das hin. Aber das flutschte, wir haben super gut harmoniert. Und dann habe ich mir die allererste Sendung angeguckt und dachte mir: Was ist das denn jetzt?! Ich saß da wie hingegossen. Ich dachte, was mache ich denn da? Keiner hat gesagt, du darfst dich bewegen, du darfst gestikulieren oder so.“ Aber mit jedem Dreh wurde es besser, das Verhalten vor der Kamera natürlicher, attestiert ihr rückblickend auch ihre Medienpartnerin Dilek Üsük anerkennend.

Trotzdem wird Meryam Schouler-Ocak wohl nicht in die Welt der Medien wechseln, meint sie scherzend. Das Vorgehen und die Denke der Journalistin wie auch der Produktions-Crew, die sie engagiert haben, kennenzulernen, sei aber faszinierend gewesen. Üsük und Schouler-Ocak betonen, wie stimmig das Team war – und wie schwierig es doch war, ein bilinguales Kamerateam zu finden, trotz des vermeintlichen Standortvorteils Berlin. Auch über die eigenen Sprachkompetenzen bzw. -besonderheiten reflektieren sie mit uns. Schouler-Ocak: „Wir beide sprechen ja eigentlich sehr gut Türkisch – aber eben mit einem kleinen deutschen Akzent, und dann haben wir beim Drehen gemerkt, dass wir entgegen unseres Skriptes tatsächlich auch ab und zu deutsche Begriffe verwendet haben, also code switching gemacht haben. Das Wort ‚Termin‘ zum Beispiel: das hat die türkeistämmige Community in Deutschland längst eingetürkischt, sozusagen.“ Üsük ergänzt: „Das wird einfach türkisch betont, auf der ersten Silbe, und mit gerolltem R gesprochen,“ sie macht es genüsslich vor, „und zack, ist das Türkisch. Eigentlich sagt man im Türkischen randevu, das Wort ist der französischen Sprache entlehnt. Aber wenn wir jetzt in unseren Clips ‚Termin‘ sagen, dann weiß unsere Zielgruppe sofort Bescheid. Eigentlich ist das Ergebnis nun authentischer als wir es in unseren Skripten vorab verschriftlicht hatten.“

Es war dem Tandem besonders wichtig, eine angemessene, laienverständliche Sprache zu verwenden. Hier wurde nichts dem Zufall überlassen. Auch deshalb ging lange vor dem ersten Drehtag in einer intensiven ersten Arbeitsphase viel Energie in das Skripten der Gespräche, die sie vor der Kamera führen wollten. Einerseits hatte das konzeptionelle Gründe: Die geplanten Episoden sollten lose aufeinander aufbauen, dabei einen roten Faden haben, und in unterschiedlichen Zusammenschnitten sowohl für Social Media als auch für einen potenziellen späteren Fernsehbeitrag funktionieren. Andererseits hatte das Tandem seine Hausaufgaben gemacht. Schouler-Ocak: „Ich habe in Podcasts reingehört und Fernsehbeiträge von Kolleginnen und Kollegen – Freunden – in der Türkei angeschaut, um zu vergleichen, auch mit der deutschsprachigen Medienlandschaft. Und manchmal dachte ich echt: Was erzählst du denn da?! Die Leute verstehen dich doch überhaupt nicht. Viel zu hochschwellig. Das wollten wir im Tandem besser machen. Und ich meine, das ist uns recht gut gelungen – auch dank ihrer Expertise,“ spricht es und nickt Richtung Üsük, bevor sie noch ergänzt: „Ich glaube, dass unsere Kanäle gut ankommen werden.“ 

Die Journalistin führt aus: „Worauf ich sehr geachtet habe, das waren die Beispiele. Dass wir wegkommen von der Oberfläche und die Themen konkret machen. Erklären ja, aber immer mit Beispielen unterfüttert. Tatsächlich,“ sie lacht, „habe ich mich gefühlt wie zuletzt beim Schreiben meiner Magisterarbeit. Es war intensiv, die Texte gingen mehrmals zwischen uns hin und her, mit Rückfragen aneinander in der Randspalte. Aber – und das war sehr spannend zu merken – diese Kommentare à la ‚Was meinst du damit?‘, ‚Kann es sein, dass du dies und das damit sagen willst?‘, ‚Wäre es nicht einfacher, wenn …?‘, die wurden im Laufe der Zeit weniger. Wir sind ein richtig eingespieltes Team geworden, schon im Schreibprozess.“

Auf ein gutes Stück Arbeit können Schouler-Ocak und Üsük zum Zeitpunkt unseres Gesprächs zurückblicken: Die Aufklärungs- und die Sportvideos sind abgedreht und geschnitten, ein Sendeplan für die Postings auf Instagram und YouTube erstellt. Auch eine Charité-Webseite lässt Schouler-Ocak aufsetzen. Hier gibt es intern letzte Fragen in Bezug auf das Impressum zu klären – und Datenschutzrechtliches bezüglich der Roadshow in der Stadt, deren Einzeltermine live gestreamt werden sollen. Für das science x media Tandem werden diese Gespräche vor und mit der türkeistämmigen Community, die diesen Sommer in verschiedenen Stadtteilzentren Berlins stattfinden sollen, das krönende Highlight und Abschluss der grundlegenden Arbeit an Anlat sein. Was wünschen sie sich für die Social Media-Kanäle? Üsük: „Wir hoffen, dass wir so viele Menschen wie möglich damit erreichen. Und dass sie aus den Videos und Infos etwas für sich ziehen können und sich selber Hilfe suchen, wenn sie oder Personen in ihrem Umfeld Hilfe brauchen. Deswegen hoffen wir, dass unsere YouTube- und Instagram-Clips herumgereicht werden und dass wir viele Influencer*innen finden, die Anlat reposten.“ Schouler-Ocak schiebt nach: „Eigentlich darf dieses Projekt gar nicht enden! Es behandelt ein Thema, Depression und Suizidalität, aber was ist mit den Angststörungen und vielen anderen mentalen Erkrankungen? Diese Themen – und vor allem die Menschen, die davon betroffen sind – hätten ähnliche Kommunikationsmaßnahmen verdient. Ich mache mir jedenfalls schon Gedanken, wie das realisiert werden kann.“

Anlat auf Instagram: https://www.instagram.com/anlat.psikoloji.vakti
Anlat auf YouTube: https://www.youtube.com/@anlat.psikoloji.vakti. 

Dr. Nina Schmidt
April 2024