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Spiritus animalis – Dem Zeitgeist der Aufklärung auf der Spur

Wenn Charaktere in Verfilmungen historischer Romane reihenweise in Ohnmacht fallen oder ausschweifend gestikulieren, erscheint dies aus heutiger Sicht oftmals übertrieben. Der kanadische Medizinhistoriker Darren Wagner beschäftigt sich mit kulturellen Vorstellungen des Nervensystems im 18. Jahrhundert und hat einige Erklärungen, warum derartige Verhaltensmuster nicht unbedingt ein Zeichen für schlechte Dramaturgie sind.

Herr Wagner, bevor wir in Details gehen, stellt sich beim Lesen Ihres Projekttitels zunächst eine Frage: Was genau ist überhaupt ein spiritus animalis?

In der Medizingeschichte des 18. Jahrhunderts stößt man unweigerlich auf diesen Begriff. Aber genauso wenig wir heute darüber wissen, so vage und unbestimmt war der spiritus animalis auch damals. Der spiritus animalis war die Vorstellung davon, wie Nerven funktionieren. Heute kennen wir Neurotransmitter und die elektrische Signalübertragung. Damals dachte man, dass in den Nerven etwas Flüssiges verläuft, ohne eigene genaue Vorstellung dieser Substanz zu haben. Auf jeden Fall konnte sie sich schnell im Körper bewegen und war essentiell für das menschliche Überleben. Man glaubte außerdem, dass der spiritus animalis die Verbindung der Seele zum Körper sein könnte. Ärzte benutzten das Konzept, um gesundheitliche Probleme zu erklären. Aber es war nicht nur ein Konzept der Physiologie, sondern berührte das Religiöse und Philosophische. Die Vorstellung des spiritus animalis wandelte sich mit der Zeit. Während des frühen 18. Jahrhunderts entwickelte sich eine Subkultur, welche als Kult der Sinnlichkeit bezeichnet wird. Ein Jahrhundert später, in den Romanen von Jane Austen beispielsweise, fallen die Protagonistinnen als „natürliche“ Reaktion auf Ereignisse regelmäßig in Ohnmacht und erröten ständig, das erscheint uns heute etwas fremd.  Damals galt dies als vornehmes und gewissermaßen wünschenswertes Verhalten. Die Menschen hielten solche Gesten für Reaktionen ihres „feinen“ Nervensystems. Noch heute gibt es im Englischen die Redewendungen „in low spirits“ oder „in high spirits“ zu sein. War jemand melancholisch, so glaubte man, war nur wenig spiritus animalis in den Nerven vorhanden. Auch für die Sexualität war dieses Konzept relevant, schließlich sind die Genitalien ein besonders empfindsamer Teil unseres Körpers. Man glaubte, dass sich die Sinneseindrücke auf den Geist auswirkten. Folglich verlieh jede Empfindung, ob angenehm oder schmerzhaft, den Handlungen einer Person eine moralische Bedeutung.

Wurden diese Konzepte nie genutzt, um Verhaltensweisen zu unterdrücken, die als unanständig galten?

Man glaubte damals ebenfalls, dass auch in der Keimzelle des Menschen der spiritus animalis enthalten war. Vor diesem Hintergrund kam in der Mitte des 18. Jahrhunderts eine Bewegung gegen Masturbation und sexuelle Freizügigkeit auf, die ein wichtiger Teil der Sexualität und des Selbstseins während der Aufklärung in Europa wurde. Berühmtheiten wie Voltaire und James Boswell beschäftigten sich philosophisch und persönlich mit dem Thema. War man sexuell sehr aktiv, so glaubten die Menschen, verlor man den spiritus animalis. Man dachte, dass so Symptome wie beispielsweise Melancholie entstanden und das Entschwinden des Geistes im schlimmsten Falle zum Tode führen konnte.

Aber in Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich auch mit der elektrischen Signalübertragung?

Gegen Ende des Jahrhunderts begannen die Menschen, den Kult der Sinnlichkeit abzulehnen. Teil dieser Veränderung war die zunehmende Faszination für die Elektrizität. Experimente mit Elektrizität wurden seit mehreren Jahrzehnten durchgeführt und bekamen immer mehr Beachtung geschenkt. Durch Experimente wie derer von Luigi Galvani wurde den Menschen bewusst, dass auch die Nerven etwas mit Elektrizität zu tun haben mussten. Ich beschäftige mich vor allem damit, ob diesem Paradigmenwechsel wirklich ein neues physiologisches Verständnis oder lediglich eine Veränderung im Vokabular zugrunde lag.

Darren Wagner

Förderprogramm

Humboldt-Forschungsstipendium am BIH

Förderzeitraum

2017 bis 2019

Vorhaben

Vom Spiritus Animalis zum Elektroschock: Der kulturelle Kontext einer Revolution in der Neurologie der Aufklärung

Fachgebiet

Medizingeschichte

Institution

Charité – Universitätsmedizin Berlin

 

2017

Humboldtforschungsstipendium am BIH, Mitherausgeber der in Kürze erscheinenden Sonderausgabe des Journal for Eighteenth-Century Studies über das Thema “The Sexes and the Sciences”, Fertigstellung seines Buchs Sexual Feeling: Sensibility, Neurology, and Generation in Britain, 1650 -1830 (provisorischer Titel)

2014 bis 2017

Postdoktorand an der at McGill University, Redaktion und Herausgabe des Sammelbands The Secrets of Generation: Reproduction in the Long Eighteenth Century (Toronto, 2015) mit Prof. Stephanson, Montreal, Kanada

2009 bis 2014

Doktorand bei Dr. Mark Jenner an der University of York, UK

Wenn Menschen das erste Mal überhaupt Elektrizität sahen, konnte man sie so leicht davon überzeugen, dass dies auch in ihrem eigenen Körper passierte?

Viele Menschen konnten durch anatomische Versuche oder mithilfe von Vorführungen mit elektrischen Fischen überzeugt werden. An ihnen konnte man sehen, dass sie Elektrizität produzieren. Also konnte man sich vorstellen, dass es in kleineren Mengen auch in anderen Lebewesen möglich war. Galvani zeigte zum Beispiel an Froschmuskeln, dass er diese selbst bei toten Tieren mit Elektrizität bewegen konnte.

Wie kommen solche Paradigmenwechsel zustande? Muss die Gesellschaft bereit für Erneuerung sein oder folgt sie eher den neuen Entdeckungen?

Sicherlich ein bisschen von Beidem. Heute hat die Medizin eine derartige Autorität über unsere Körper und unsere Gesundheit, dass wir als Gesellschaft geradezu gesundheitsversessen sind. Gleichzeitig gibt es soziale, kulturelle und moralische Barrieren, welche der Medizin durchaus Schranken setzen, sei es in der Stammzellforschung oder bei Abtreibungen. Bei medizinischen Verfahren sollte man immer hinterfragen, warum gewisse Praktiken existieren – oder eben auch nicht – und welche Grundüberzeugungen dahinterstecken.

Wo trifft man Sie in Berlin noch an, wenn nicht gerade in der Bibliothek?

Ich verbringe viel Zeit in Museum, vor allem die Gemäldegalerien in Berlin haben es mir angetan. Normalerweise versuche ich, Freizeit und Arbeit zu trennen.

Doch wenn ich vor Gemälden aus dem 17. oder 18. Jahrhundert stehe, komme ich nicht umhin, sie zu analysieren und im schlimmsten Falle über ihre Verbindung zu meiner Forschung nachzudenken (lacht).

Haben sie denn selbst schon einmal in Ihrer wissenschaftlichen Arbeit Kunst als Darstellungsform benutzt?

Vor ein paar Jahren war ich Co-Kurator einer Ausstellung in Kooperation mit der Osler Library of the History of Medicine in Montreal. Es ging um die Geschichte des Blutes in der Medizin und wie diese mit übergeordneten sozialen Fragestellungen zusammenhängt. Insgesamt wurden 500 Jahre beleuchtet, vom 16. Jahrhundert bis heute. Es gab interaktive Bildschirme, Ausstellungsobjekte, eine Filmvorführung, eine Vernissage und Vorlesungen. Die Filmvorführung gefiel mir besonders. Wir zeigten den Film „Blood of the Vampire“ aus dem Jahr 1958. Es handelt sich um einen billig produzierten Horror-B-Movie über einen Vampir, der mörderische Bluttransfusionsversuche in einem Irrenhaus durchführt. Der Film stammt aus der Zeit, in der die Blutgruppen und Bluttransfusionen gerade erst möglich wurden.

Welches Objekt würden Sie gerne ausstellen, wenn Sie darüber verfügten?

In London werden im Royal College of Surgeons die Evelyn Tables aufgehoben, das sind vier Tafeln, die aus dem 17. Jahrhundert stammen. Jede dieser Tafeln stellt anatomische Strukturen dar, das arterielle und das venöse System sowie zweimal das Nervensystem. Die Strukturen wurden komplett seziert und in voller Länge auf den Tafeln angebracht. Zur Zeit ihrer Anfertigung wurde in der Vorstellung der Menschen gerade der Blutkreislauf denkbar. Oftmals werden die Anatomie und die Medizin als etwas vollkommen Objektives dargestellt. Dabei schwingt selbst in der Weise, wie man ein Objekt ausstellt, viel mehr Bedeutung mit. Mit den beiden Tafeln über das Nervensystem ließe sich eine wunderbare Ausstellung über meine Forschungsthemen gestalten und ein Bezug zur historischen Neurologie und ihrer sozialen Bedeutung herstellen. Ich kann mir durchaus vorstellen, in Berlin eine kleine Ausstellung vorzubereiten, vielleicht in Zusammenarbeit mit einem meiner Lieblingsmuseen, beispielsweise dem medizinhistorischen Museum.

Wir sind auf jeden Fall gespannt und kämen auch gerne zu einer Filmnacht ob nun eine Jane Austen-Verfilmung oder ein Vampirfilm.

Oktober 2018 / MM